Nach der Bundestagswahl ist vor den Koalitionsverhandlungen. Alle Zeichen deuten auf die Bildung der sog. Ampel-Koalition aus SPD, FDP und Grünen hin und die Parteien scheinen aufs Tempo zu drücken. Zeit also einen Blick in die Glaskugel zu werfen. Wo liegen die Schnittmengen der drei Parteien im Bereich Arbeit? Worüber wird gestritten werden? Und welche gemeinsame Richtung könnte sich in der Ampel-Koalition herauskristallisieren?
- Ausbildung und Weiterbildung
Ein wichtiges Anliegen aller Parteien ist die Aus- und Weiterbildung der Beschäftigten. Die „Ausbildungsgarantie“ von SPD und Grünen wird bei der FDP zur „Zukunftsgarantie“. Die Modernisierung und angepasste Finanzierung in Bedarfsbereichen, auch bei der dualen Berufsausbildung, schreiben sich SPD und Grüne auf die Fahnen. SPD und FDP planen jungen Menschen, die keinen Ausbildungsbetrieb finden, eine Perspektive durch die Stärkung von außerbetrieblichen Angeboten, etwa in Berufsschulen, zu bieten. Grüne und FDP wollen mehr Auslandserfahrungen im Ausbildungsbereich und die Anerkennung von Teilqualifikationen fördern. Die FDP möchte die Betriebe in der Konzeption digitaler Ausbildungsangebote unterstützen und die Begabtenförderung verbessern. Insgesamt sehen alle Parteien einen großen Reformbedarf im Ausbildungsbereich mit erheblichen Schnittmengen.
Im späteren Lebensabschnitt soll es laut SPD und Grünen ein Recht auf Weiterbildung inklusive finanzieller Absicherung geben. Beide teilen die Idee eines Qualifizierungs-Kurzarbeitergeldes. Die FDP setzt auf einen dynamischeren Ansatz durch ein persönliches Freiraumkonto für Arbeitnehmer zum Ansparen von Bildungsauszeiten. Die SPD hat durch die Weiterentwicklung der Langzeitkonten zum Chancenkonto für die individuelle Gestaltung entlang des Lebenslaufs etwas Ähnliches im Repertoire. Weiter befürwortet die SPD ein „Neustart-BAföG“, die Grünen ein „Weiterbildungs-BAföG“ und die FDP geht mit dem „Midlife-BAföG“ an den Start. Sollte die Namenseinigung gelingen, dürfte auch hier ein gemeinsames Konzept zu finden sein. - Arbeitnehmerstatus
Obgleich es in diesem Jahr eine kleine Reform des Statusfeststellungsverfahrens nach § 7a SGB IV gab, drängen alle Parteien auf eine echte Vereinfachung der Klärung des Beschäftigtenstatus zur Vermeidung von Scheinselbstständigkeit. Die FDP wünscht sich klare gesetzliche Positivkriterien für Selbstständigkeit und eine unabhängige Stelle zur Prüfung. SPD und Grüne nehmen die Plattformbetreiber digitaler Arbeit ins Visier und wollen das Schutzniveau der Beschäftigten erhöhen, etwa durch ein digitales Zugangsrecht für Gewerkschaften und leichtere tarifliche Organisationsmöglichkeiten. Die Grünen fordern eine Beweislast des Auftraggebers für den Selbstständigenstatus von Auftragnehmern und Honoraruntergrenzen für zeitbasierte Dienstleistungen. Die genaue Ausgestaltung eines gemeinsamen Programms ist hier noch nicht absehbar und hat vermutlich nicht die höchste Priorität zu Beginn der Legislaturperiode. - Befristete Arbeitsverhältnisse
Das längste Kapitel im Wahlprogramm der SPD „Eine Gesellschaft des Respekts“ beginnt mit dem Unterpunkt „Arbeit wertschätzen“. Die Bekämpfung der sachgrundlosen Befristung ist dabei ein Lieblingsthema der SPD. Die vom Gesetz akzeptierten Gründe sollen auf den Prüfstand gestellt werden. Leiharbeiter sollen ab dem ersten Tag den gleichen Lohn bekommen wie Stammbeschäftigte. In abgeschwächter Vehemenz werden diese Vorschläge von den Grünen geteilt. Diese möchten daneben Geringverdiener durch ein branchenunabhängiges Mindestkurzarbeitergeld schützen und gegen den Missbrauch von Werkverträgen und Subunternehmerketten ordnungspolitisch vorgehen. Hier zeigt sich das erste Mal im Bereich Arbeit ein Graben zwischen den parallel laufenden Positionen von SPD und Grünen und der Haltung der FDP. Die FDP sprach sich in der Vergangenheit gegen jede Beschränkung von Befristungsmöglichkeiten aus und nannte diese einen unverzichtbaren Bestandteil einer flexiblen Volkswirtschaft. Dazu passt die Ablehnung von Sondervorschriften zur Zeitarbeit im aktuellen Wahlprogramm und der Vorschlag die Höchstüberlassungsdauer der Arbeitnehmerüberlassung vollständig abzuschaffen. Die Ausgestaltung der Befristungsregeln wird in den Verhandlungen ausführlicher diskutiert werden. Eventuell bedarf es eines Handels über andere kritische Positionen, damit es zu einer Übereinkunft kommen kann. - Mindestlohn und Niedriglohnsektor
Die Erhöhung des Mindestlohns auf zunächst 12 Euro ist ein zentrales Versprechen von SPD und Grünen an ihre Wähler. Die FDP positionierte sich hingegen im Wahlkampf gegen einen Überbietungswettbewerb beim Mindestlohn. Dies könnte auf einen Prinzipiendisput hinweisen. Die Konfliktlinie lässt sich jedoch vielleicht im Gesamtgefüge verwischen. Bis zum 01. Juli 2022 steigt der Mindestlohn bereits planmäßig von 9,60 Euro auf 10,45 Euro. Neben der dadurch verringerten Sprunghöhe ist der Mindestlohn ein vergleichbar geringeres Opfer für die FDP, um in der Diskussion über die großen Kaliber wie Befristung, Tarifverträge und Mitbestimmung Verhandlungsgewicht aufzubauen und sich als Nebeneffekt bei den Wählern im unteren Verdienstsektor zu profilieren. Unsere Prognose: Der Mindestlohn von 12 Euro kommt.
Die FDP selbst schlägt im Niedriglohnsektor eine Erhöhung der Mini- und Midijobgrenze und eine dynamische Koppelung an den Mindestlohn vor. Die Anhebung der Gleitzone für Midijobs wird von der SPD geteilt und dürfte bei den Grünen auf wenig Widerstand treffen. Die Idee von SPD und Grünen, weitestgehend alle Jobs in die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu überführen, wird hingegen von der FDP zur Debatte gestellt werden. - Gestaltung der Arbeit (Mobile Arbeit, Arbeitszeit, Vereinbarkeit von Beruf und Familie)
Die Zukunft der Arbeitswelt wird in den nächsten vier Jahren neu verhandelt werden. Im Zuge der Corona-Pandemie konnte keine Partei das Thema mobile Arbeit länger ignorieren. Die SPD plant nun die Einführung eines Rechtsanspruchs auf mobile Arbeit. Beschäftigte sollen bei einer Fünf-Tage-Woche mindestens 24 Tage im Jahr mobil oder im Homeoffice arbeiten können, wenn es die Tätigkeit erlaubt. Die Grünen teilen die Idee im Grundsatz und ergänzen sie durch ein Rückkehrrecht in den Betrieb. Die FDP hat hier stattdessen einen Rechtsanspruch auf Erörterung der Entscheidung des Arbeitgebers im Sinn und möchte bei mobiler Arbeit nur das Arbeitsschutzgesetz und nicht die schärfere Arbeitsstättenverordnung anwenden. Die SPD-Idee zur Schaffung eines echten Mitbestimmungsrechts zur Einführung mobiler Arbeit ist währenddessen höchst streitig.
Über den Erhalt der Schutzfunktion des Arbeitszeitgesetzes auch bei mobiler Arbeit sind sich SPD und Grüne einig. Die Ausgestaltung der notwendigen Reform des Arbeitszeitgesetzes zur Anpassung an die moderne Arbeitswelt trifft allerdings auf unterschiedliche Ansätze. Die SPD schließt eine Verlängerung der täglichen Höchstarbeitszeit aus. Die FDP bringt die Umgestaltung in eine wöchentliche Höchstarbeitszeit ins Gespräch. Die Grünen stehen in der Mitte und wollen jedenfalls Arbeitszeitmodelle zum Vorteil der Arbeitnehmer, etwa mit Hilfe eines flexiblen Arbeitszeitkorridors. Es bleibt zu hoffen, dass die Parteien sich auf einen Konsens verständigen können und damit die von der Praxis lange geforderte Modernisierung des Arbeitszeitrechts kommt.
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird von allen Parteien als relevante Herausforderung gesehen. SPD und FDP planen einen Partnerschutz analog zum Mutterschutz von zehn Arbeitstagen nach der Geburt. Beide stellen weitere Überlegungen zur Ausgewogenheit der gemeinsamen Familienarbeit an, die SPD mit dem zehnmonatigen ElterngeldPlus, die FDP mit dem Rechtsanspruch auf drei Partnermonate. SPD und Grüne setzen sich für eine Familienpflegezeit mit Lohnersatz ein. Die Grünen wünschen sich ein echtes Recht auf Rückkehr in Vollzeit, das auch für kleinere Betriebe gilt und die Einführung einer Elternzeitregelung im Aktienrecht. Die FDP zieht im Bereich Auszeit für Führungskräfte durch Ruhenlassen des Mandats mit und möchte Betriebskindergärten steuerlich fördern.
In der Summe gibt es zur Gestaltung der Arbeit von morgen eine Reihe von Vorschlägen, die noch zusammengebracht werden müssen. Alle Beteiligten lassen jedenfalls deutlichen Gestaltungswillen erkennen. - Tarifverträge und Mitbestimmung
Hier spielt die Musik! Der rot-grüne Block zum Thema Tarifverträge und Mitbestimmung ist nicht von der Hand zu weisen. Die Wahlprogramme von SPD und Grünen wirken wie aus einem Guss. Sie verbindet die Forderung eines Bundestariftreuegesetzes, welches die Vergabe öffentlicher Aufträge an eine Tarifbindung des Unternehmens koppelt und einer leichteren Möglichkeit Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. Beide zielen auf die weitere Stärkung der Betriebsräte, eine echte Parität zur Durchsetzung von Arbeitnehmerpositionen und eine vielgestaltige Erweiterung der betrieblichen Mitbestimmung. Letztere betrifft etwa kleinere Unternehmen oder Themenbereiche wie Personalentwicklung, Weiterbildung, Standortverlagerungen und bei den Grünen natürlich auch Klimaschutz. Zum Schutz der Arbeitnehmer, insbesondere im Online-Bereich, beabsichtigen beide ein digitales Zugangsrecht zum Betrieb und ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften, sowie einen stärkeren Beschäftigtendatenschutz einzuführen.
Ein Zusammenkommen mit der FDP wird für den Bereich Arbeit hier kriegsentscheidend sein. Die Freien Demokraten sagen zu den genannten Punkten in ihrem Wahlprogramm: Nichts. Und damit genug. Die freie unternehmerische Gestaltung ist ein Kernelement der FDP-Identität. Das Eintreten für diese Position und eine Entschärfung der Pläne von SPD und Grünen wird für die Partei zur Haltungsfrage werden. Als kleinster Partner im Dreierbündnis Ampel wird sie sich die Entschärfung durch Kompromisse in anderen Bereichen (bspw. Befristung, Mindestlohn) erkaufen müssen. Wird eine Einigung nicht erreicht, ist dies der einzige Punkt im Bereich Arbeit, der nach unserer Einschätzung die Koalitionsverhandlungen wirklich gefährden könnte. - Arbeits- und Gesundheitsschutz
Der Arbeits- und Gesundheitsschutz wird in den Wahlprogrammen nur vage angeschnitten. Die SPD möchte etwa die Aktivitäten der Sozialversicherungen zur Gesundheitsprävention bündeln. Die Grünen fordern einen besseren Arbeitsschutz vor Stress, Burnout und Entgrenzung der Arbeit. Die FDP trifft keine Aussagen in diesem Bereich. Ein gemeinsames Konzept kann hier sicherlich für alle stehen. - Diskriminierungsschutz und Gleichstellung
Im Bereich Diskriminierungsschutz verfolgen die Parteien unterschiedliche Ansätze. SPD und Grüne wollen die bestehenden Institutionen wie Schwerbehindertenvertretungen und Antidiskriminierungsstellen stärken und z. B. Ausgleichsabgaben erhöhen. Die Pläne der Grünen sind dabei wesentlich umfangreicher. Sie streben unter anderem die Aufwertung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zur obersten Bundesbehörde mit mehr Personal, Budget und Kompetenzen und ein Verbandsklagerecht im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz an. Mobbing und Diskriminierung am Arbeitsplatz sollen mit klaren Sanktionen und verpflichtend zu schaffenden Anlaufstellen bekämpft werden.
In der Geschlechtergleichstellung setzen SPD und Grüne auf eine Weiterentwicklung der gesetzlichen Grundlagen für eine höhere Transparenz. Beide möchten über Frauenquoten zumindest in großen Unternehmen regulierend eingreifen. Die FDP lehnt Quoten grundsätzlich ab und setzt auf Selbstverpflichtungen für Unternehmen. Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten sollen aber ihren internen Gender-Pay-Gap auswerten und veröffentlichen. Inwieweit die FDP den ordnungspolitischen Maßnahmen von SPD und Grünen hier entgegenkommt bleibt abzuwarten. - Whistleblowerschutz
Sowohl Grüne als auch FDP fordern eine unverzügliche Umsetzung der EU-Hinweisgeberrichtlinie und einen insgesamt ausgeweiteten Schutz für Whistleblower. Erstaunlich ist, dass die SPD dieses Thema in ihrem Wahlprogramm vernachlässigt hat, wurden doch bisherige Vorstöße von SPD-Justizministerin Lambrecht durch die Union blockiert. Einzelpunkte wie der zuvor auszuschöpfende Dienstweg und die Regelung einer Entschädigung für Hinweisgeber werden im Detail zu verhandeln sein. Eine Einigung erscheint aber zeitnah realistisch, sodass bei zügigen Koalitionsverhandlungen eine Umsetzung der EU-Richtlinie noch innerhalb der bis Ende des Jahres ablaufenden Frist erfolgen könnte. Wir bleiben zuversichtlich. Das nationale Gesetz zur Umsetzung der EU-Richtlinie mit einer Harmonisierung des Hinweisgeberschutzes kommt, vielleicht sogar bis zum 17. Dezember 2021. - Fazit
Betrachtet man den Bereich Arbeit wird die Ampel nicht ohne Grund als wahrscheinliche Regierungskoalition gehandelt. SPD und Grüne haben naturgemäß die größere Schnittmenge, kommen jedoch in vielen Punkten gemeinsam oder individuell mit der FDP zusammen. Auf die kreative Überwindung der entscheidenden Gräben darf man währenddessen gespannt sein. Eine Stärkung der Rechte von Arbeitnehmern und Arbeitnehmervertretern ist aufgrund der Mehrheitsverhältnisse der Parteien im Ergebnis zu erwarten.
Autoren: Stefan Gatz, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht und Robin Averesch, Wissenschaftlicher Mitarbeiter