Das LG Dortmund (Urt. v. 30.9.2020 – 8 O 115/14) hat bei der Ermittlung von Kartellschäden einen revolutionären Weg beschritten und die Höhe des Schadensersatzanspruchs ohne gutachterliche Hilfe frei geschätzt.

In dem angesprochenen Urteil (Urt. v. 30.9.2020 – 8 O 115/14) hatte das LG Dortmund über einen Fall zum sogenannten „Schienenkartell“ der Jahre 2001 bis 2011 zu entscheiden. In diesem Kartell trafen Hersteller von Schienen, Weichen und Schwellen Preis-, Quoten-  und Kundenschutzabsprachen zu Lasten von Gleise verbauenden Unternehmen wie der Deutschen Bahn, Nahverkehrsunternehmen und Privatbahnen. Die Kartellanten teilten sich die Kunden u. a. anhand des „Stamm-“ bzw. „Altkundenprinzips“ auf. Jedem Kartellbeteiligten wurden Stammkunden zugeordnet. Die jeweils anderen Unternehmen schützten dieses Vorgehen, indem sie entweder bewusst keine Angebote oder Angebote verspätet bzw. gezielt überteuert abgaben.

Wegen des Schienenkartells verhängte das Bundeskartellamt In den Jahren 2012 und 2013 gegen die Kartellanten Bußgelder in Höhe von 232 Mio. EUR.

Vergleichsweise geringe Klagesumme

In dem nun vom Landgericht Dortmund entschiedenen Fall hatte ein städtisches Nahverkehrsunternehmen seinen Lieferanten sowie sechs weitere Kartellanten auf Schadensersatz wegen vermeintlicher Preiserhöhungen verklagt. Die Schadenssumme bezifferte die Klägerin auf – für Kartellschäden überraschend geringe – 385.000 EUR.

Die Kartellbeteiligung der Beklagten und die getroffenen Kartellabsprachen konnte die Klägerin mithilfe der vom Bundeskartellamt erlassenen Bußgeldbescheide leicht nachweisen. In Kartellschadensersatzfällen sind die Feststellungen des Bundeskartellamts zur Kartellbeteiligung auch für die Zivilgerichte bindend.

Brandneue Erleichterungen durch „Schiene II“

Schwieriger sah es bei der Darlegung des konkreten Kartellschadens aus.

Der Bundesgerichtshof hat in seiner jüngsten Rechtsprechung die Anforderungen an diese Darlegung insbesondere bezüglich des „Ob“ im Wege eines klassischen „Zick-Zack-Kurses“ zunächst erheblich erschwert („Schienenkartell I“, Urteil vom Urteil vom 11.12.2018, KZR 26/17) und vor kurzem dann wieder erheblich erleichtert („Schienenkartell II“, Urteil vom Urteil vom 28.01.2020, KZR 24/17). 

Nach der „Schienenkartell II“-Entscheidung kann die Frage, „ob“ überhaupt ein Schaden entstanden ist, durch eine Schätzung des Gerichts beantwortet werden. Dabei spricht in den meisten Kartellkonstellationen bereits eine tatsächliche Vermutung für eine kartellbedingte Preisüberhöhung und damit für einen Schaden, denn ansonsten hätten die Kartellanten das Kartell ja kaum gebildet. Diese Schätzung ist nach den Vorgaben des BGH nicht aufgrund ökonomischer Marktuntersuchungen vorzunehmen, sondern durch eine Analyse der Kartellumstände, wie sie insbesondere der Bußgeldentscheidung des Bundeskartellamts zu entnehmen sein können.

Einer – sehr teuren – ökonomischen Analyse durch Sachverständige bedarf es somit nicht mehr. Dies erleichtert die Klageerhebung erheblich, weil es die Möglichkeit eröffnet, auf teure Privatsachverständige zu verzichten. 

Das allein würde aber noch nicht viel nützen, wenn anschließend für die Ermittlung der Höhe des Schadens umfangreiche ökonomische Gutachten erforderlich würden. 

Weiterentwicklung durch das LG Dortmund

Das LG Dortmund geht deswegen jetzt einen Schritt weiter. Es wendet die Erleichterung, die vom BGH für die Ermittlung des „Ob“ eines Kartellschadens eingeführt wurde, auch auf die Ermittlung von dessen Höhe an. Mit anderen Worten: Das Gericht leitet die Höhe eines Kartellmindestschadens direkt aus der zugrundeliegenden Bußgeldentscheidung des Bundeskartellamts ab.

Damit propagiert das Landgericht, dass derjenige, der zu der Überzeugung gelangt, dass ein Schaden vorliegt, zugleich auch ein Gefühl dafür haben dürfte, auf welche Höhe sich dieser mindestens belaufen dürfte.

Dies leuchtet unmittelbar ein. Wenn man einen Schaden > null bejaht, ist es nur konsequent, zugleich auch einen – geringen – Mindestschaden zu bejahen.

Maximaler Prozessertrag nur mit Gutachten

Alles in Butter also für die Klägerseite? Nicht ganz.  Es steht zu erwarten, dass eine nur aus den Umständen des Kartells abgeleitete Schätzung der Schadenshöhe tendenziell recht gering ausfallen wird. Es kann sich hier immer nur um einen Mindestschaden handeln (so ausdrücklich Rn. 95 des Urteils). Umgekehrt wird es häufig so sein, dass eine marktbasierte Schätzung, die die tatsächlichen Auswirkungen des Kartells ermittelt, deutlich höhere Preissteigerungen ergibt. 

Im Ergebnis bleibt der Kläger, der den maximalen Schadensersatzbetrag erstreiten will, also weiterhin auf die Einholung eines kostenträchtigen Gutachtens angewiesen.

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