Der Bundesgerichtshof In Karlsruhe hat am 23.09.2020 das wegweisende Urteil des OLG Stuttgart 2 U 101/18 zum Lkw-Kartell aufgehoben (KZR 35/19). Das OLG Stuttgart hatte eine kartellbedingte Preiserhöhung von Lkws angenommen, weil die Kartellanten ihre Bruttopreislisten ausgetauscht hatten. Auch ESCHE hat sich in Kartellschadensersatzklagen regelmäßig auf dieses Urteil berufen. Was bedeutet dieses Urteil aus Karlsruhe? Ist es mehr als ein Etappensieg für den Stuttgarter Automobilhersteller?

Diese Fragen lassen sich zurzeit nicht beantworten. Die Urteilsbegründung des BGH ist – wie in solchen Fällen üblich – noch nicht verfügbar. Sie wird voraussichtlich vier bis sechs Wochen auf sich warten lassen. Bis dahin darf allseits gerätselt werden, was der BGH am Urteil aus Stuttgart auszusetzen hatte.

Lkw-Kartell 1997 bis 2011
Das LG Stuttgart und das OLG Stuttgart sind mit einer Vielzahl von Schadensersatzklagen gegen die Daimler AG wegen deren Beteiligung am Lkw-Kartell 1997 bis 2011 befasst. In diesem Kartell hatten nach den Feststellungen der EU-Kommission sämtliche großen Lkw-Hersteller zwischen 1997 und 2011 Bruttopreise und Pläne für Preiserhöhungen ausgetauscht.

Außer Daimler waren laut EU-Kommission auch MAN, Volvo/Renault, Iveco, DAF und Scania an dem Kartell beteiligt. Die EU-Kommission verhängte gegen die Kartellanten Bußgelder in Milliardenhöhe.

Das OLG Stuttgart folgerte aus diesem Informationsaustausch und weiteren Begleitumständen, dass es durch das Kartell zu einer Preiserhöhung zu Lasten der Käufer von Lkw kam. Diese Preiserhöhung wäre die zentrale Voraussetzung für das Bestehen von Schadensersatzansprüchen.

Vielsagende E-Mails
Wie der Informationsaustausch ablief, lässt sich am besten in der instruktiven Bußgeldentscheidung gegen die Mitkartellantin Scania nachlesen. Dort hat die EU-Kommission auf rund 30 Seiten Dutzende Mails und Besprechungsinhalte abgedruckt.

Mail eines Kartellanten vom 02.12.2004:
„Preiserhöhungen 2005: Es ist dasselbe wie jedes Jahr, der Chef will wissen, ob und wann Ihr nächstes Jahr die Preise erhöht. Aus diesem Grund stellt diese Information bitte allen zur Verfügung, um die Zeit für Einzelanfragen zu sparen.“

Mail eines Kartellanten vom 12.07.2005:
„Bei unserem Treffen letzte Woche haben wir Euch allen die aktuelle Preisliste (auf der Basis des deutschen Marktes) gegeben. Wenn möglich, schickt uns bitte auch Eure. Wenn nicht, gebt uns bitte eine kurze Information, wie wir sie in Zukunft austauschen wollen (z. B. durch Direktkontakt zu den Zuständigen für den deutschen Markt) und ob es möglich ist, uns einen Konfigurator zur Verfügung zu stellen oder nur Pdf-Dateien.“

Mail eines Kartellanten vom 02.04.2009:
„Es ist wieder so weit: Ich schicke Euch beigefügt unsere Daten zu dem oben genannten Thema [Preiserhöhungen im April 2009]. Obwohl es derzeit für uns alle sehr schwierig ist, wäre ich für eine schnelle Antwort dankbar. Wenn ich alle Daten habe, werde ich sie herumschicken.“

Mail eines Kartellanten vom 21.07.2009:
„Guten Morgen, ich bin [bei dem Treffen] dabei. Spontane Vorschläge zu möglichen Themen: […] EURO VI? Ich weiß – dürfen und wollen wir darüber reden? – Wie kriegen wir das total kaputte Preisniveau dieses Jahres gemeinsam wieder angehoben?“

Schlechte Aussichten für Geschädigte?
Der Rechtsstreit gegen Daimler ist nun an das OLG zurückverwiesen worden. Beobachter der Karlsruher Verhandlung vermuten, dass der BGH dem OLG aufgeben wird, den Informationsaustausch unter den Kartellanten noch genauer zu würdigen und die Entstehung eines Schadens für die Käufer besser zu begründen. Dies mag überraschen, wenn man die recht eindeutigen Mails der Scania-Entscheidung sieht. Allerdings ist diese Entscheidung ausschließlich gegen Scania gerichtet und eben nicht gegen Daimler. Nur bei Scania hat die Kommission die Kartellverstöße so ausführlich begründet, weil Scania sich gegen die Kommissionsentscheidung gewehrt hat und bis heute wehrt. Für die die Daimler AG betreffenden Verfahren kann die Scania-Entscheidung daher nicht einfach herangezogen werden.

Es bleibt abzuwarten, wie die Stuttgarter Gerichte (Landgericht und Oberlandesgericht) mit dieser Situation umgehen werden. So viel lässt sich aber sagen: Aus dem Urteil des Bundesgerichtshofs „Schlechte Aussichten für Geschädigte des Lastwagenkartells“ abzuleiten – so die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ auf faz.net – ist sicherlich verfrüht.

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