Muss der Arbeitgeber den dauerhaft arbeitsunfähigen Arbeitnehmer auffordern, Urlaubsansprüche im laufenden Urlaubsjahr zu nehmen, um deren Verfall herbeizuführen?
Ausgangslage
Gem. § 7 Abs. 3 BUrlG verfällt der Urlaubsanspruch mit Ablauf des Urlaubsjahres, d. h. dem 31.12. des jeweiligen Kalenderjahres, es sei denn aus dringenden betrieblichen oder in der Person des Arbeitnehmers liegenden Gründen ist eine Übertragung in das nächste Kalenderjahr gerechtfertigt. In diesem Fall muss der Urlaub bis zum 31.03. des Folgejahres gewährt und genommen werden. Wird diesen Vorgaben des § 7 Abs. 3 BUrlG nicht genügt, verfällt der Urlaubsanspruch.
Erste Korrektur durch den EuGH: Dauerhafte Arbeitsunfähigkeit im Urlaubsjahr
Der EuGH (EuGH v. 20.01.2009 - C-350/06 - Schultz-Hoff) hat darauf erkannt, dass der Verfall des Urlaubsanspruchs nicht eintritt, wenn der Arbeitnehmer wegen Krankheit nicht in der Lage war, den Urlaub zu nehmen. Der – in den Worten des EuGH – sich im Krankheitsurlaub befindliche Arbeitnehmer ist nicht in der Lage, seinen Erholungsurlaub in Anspruch zu nehmen. Aus Sicht des EuGH ist es in dieser Konstellation nicht zu rechtfertigen, dass der Arbeitgeber von der Verpflichtung zur Gewährung des Erholungsurlaubes frei wird.
Da dies bei langzeiterkrankten Arbeitnehmern zu einer unbegrenzten Ansammlung von Urlaubsansprüchen führen könnte, war in der Vergangenheit rasch eine Klarstellung seitens des EuGH (EuGH v. 22.11.2011 − C-214/10 KHS/Schulte) dahingehend erfolgt, dass dies nicht zeitlich unbegrenzt möglich ist. So ist es europarechtlich nicht zu beanstanden, dass der Urlaubsanspruch nach Ablauf von 15 Monaten nach Ende des Urlaubsjahres verfallen kann.
Das BAG (BAG v. 07.08.2012 – 9 AZR 353/10) hat dies zum Anlass genommen, analog § 7 Abs. 3 BurlG den Zeitraum des Urlaubsjahres zzgl. des Übertragungszeitraums – ebenfalls just 15 Monate – in analoger Anwendung der Bestimmung heranzuziehen, um sodann einen Verfall des Urlaubsanspruchs mit Ablauf von 15 Monaten nach Ende des Urlaubsjahres anzunehmen. Ergo verfällt bei Langzeitkranken der Urlaubsanspruch 15 Monate nach Ende des Urlaubsjahres, für das der Urlaubsanspruch jeweils entstanden ist.
Zweite Korrektur durch den EuGH: Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers
Der EuGH (EuGH v. 06.11.2018 – C-684/16) hat es des Weiteren als ungerechtfertigt betrachtet, wenn ein bedeutendes Recht aus dem EU-Recht wie der Urlaubsanspruch im Kontext der EU-Arbeitszeitrichtlinie voraussetzungslos mit Ablaufs eines bestimmten Zeitraums erlischt. Aus Sicht des EUGH ist es erforderlich, dass diese Rechtsfolge dem Arbeitnehmer jeweils konkret für den jeweiligen Urlaubsanspruch vor Augen geführt wird. Das BAG (BAG v. 19.02.2019 - 9 AZR 321/16) hat diese Rechtsprechung dahingehend umgesetzt, dass der Arbeitgeber – ein pauschaler Hinweis im Arbeitsvertrag genügt hierfür nicht – für jedes Urlaubsjahr den Arbeitnehmer konkret unter Mitteilung seines Urlaubsanspruchs auffordern muss, diesen zu entnehmen und dies mit dem Hinweis auf die Rechtsfolge des Verfalls des Urlaubsanspruchs, soweit er nicht gewährt und genommen werden sollte.
Mitwirkungsobliegenheit auch bei Langzeitkranken?
Dies hat die Frage aufgeworfen, ob die Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers zur Aufforderung des Arbeitnehmers, zur Vermeidung des Verfalls des Urlaubsanspruchs seinen Urlaub im laufenden Arbeitsjahr zu nehmen, auch dann gilt, wenn der Arbeitnehmer während des gesamten Urlaubsjahres langzeitkrank ist. Eine solche Aufforderung wäre eine sinnlose Förmelei – ist doch eine Anrechnung des Urlaubsanspruchs auf Tage der Arbeitsunfähigkeit gem. § 9 BUrlG rechtlich nicht möglich. Das BAG hat nun klargestellt, dass auch aus europarechtlichen Erwägungen keine Voraussetzung des Verfalls des Urlaubsanspruchs eines langzeitkrankten Arbeitnehmers ist, dass der Arbeitgeber zur Inanspruchnahme seines Urlaubs zwecks Vermeidung eines Verfalls aufgefordert hat (BAG v. 07.09.2021 – 9 AZR 3/21). Der Verfall des Urlaubsanspruchs beruht in diesem Falle auf der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers während des Urlaubsjahres zzgl. des Übertragungszeitraums. Da während dieser Zeit keine rechtliche Möglichkeit zur Inanspruchnahme des Urlaubs in Natur bestand, kann sich die Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers insoweit nicht auswirken.
Achtung:
Das BAG hat dies nur für Urlaubsjahre und Übertragungszeiträume entschieden, in denen der Arbeitnehmer durchgehend arbeitsunfähig war. War der Arbeitnehmer etwa zu Beginn des Urlaubsjahres noch arbeitsfähig, hätte eine (allerdings frühzeitige) Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheit für den Verbrauch des Urlaubs im Zeitraum vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit noch relevant sein können. Ob auch in dieser Konstellation eines Urlaubsjahres mit teilweiser Arbeitsfähigkeit die Mitwirkungsobliegenheit Voraussetzung für den Verfall des Urlaubs nach 15 Monaten in der Arbeitsunfähigkeit ist, ist noch nicht geklärt. Das BAG (BAG v. 07.07.2020 – 9 AZR 401/19) hat diese Frage dem EuGH zur Klärung vorgelegt. Die Beantwortung steht noch aus.
Fazit
Die Entscheidung des BAG schafft Klarheit. Bei langzeiterkrankten Arbeitnehmern bedarf es zur Herbeiführung des Verfalls von Urlaubsansprüchen für Urlaubsjahre und Übertragungszeiträume, die vollständig mit Arbeitsunfähigkeit belegt waren, keiner Aufforderung, den Urlaubsanspruch im laufenden Urlaubsjahr zu nehmen.
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