Dem Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 25.06.2021 (Az. 14 Sa 1225/20) sind neue Anforderungen an die ordnungsgemäße Erstattung der Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG zu entnehmen. Nach Auffassung des Gerichts soll nunmehr auch das Fehlen der sog. „Soll-Angaben“ aus § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG zur Unwirksamkeit der Kündigungen führen, d. h. Angaben zu Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit. Den Arbeitgeber träfe sogar die Pflicht, diese Angaben nachzuforschen.
Die Erstattung der Massenentlassungsanzeige: eine hohe Kunst
Nach § 17 Abs. 1 KSchG trifft den Arbeitgeber gegenüber der Agentur für Arbeit vor Massenentlassungen in Abhängigkeit zur Betriebsgröße eine Anzeigepflicht innerhalb eines Zeitraums von 30 Kalendertagen. Nach dem Bundesarbeitsgericht (BAG) handelt es sich bei der ordnungsgemäßen Erstattung der Massenentlassungsanzeige um eine Wirksamkeitsvoraussetzung der jeweiligen Kündigungen (vgl. BAG v. 22.01.2012 – 2 AZR 371/11). Bezüglich des Inhalts der Massenentlassungsanzeige unterscheidet das Gesetz zwischen sog. „Muss-Angaben“ sowie sog. „Soll-Angaben“ gem. § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG. Bislang hat nur das Fehlen der sog. „Muss-Angaben“ zur Annahme einer nicht ordnungsgemäßen Erstattung der Massenentlassungsanzeige geführt, mit der Folge, dass die daraufhin ausgesprochenen Kündigungen unwirksam waren.
Die „Muss-Angaben“ gemäß § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG
Von der Pflicht umfasst waren insofern Angaben über
- den Namen des Arbeitsgebers,
- den Sitz und die Art des Betriebs,
- die Gründe für die geplanten Entlassungen,
- die Zahl und die Berufsgruppe der zu entlassenden und in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer,
- den Zeitraum der Entlassungen und
- die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer.
Die darüber hinausgehenden sog. „Soll-Angaben“ gemäß § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG waren stets freiwillig und wurden auch von den Agenturen für Arbeit, die die entsprechenden Formulare zur Erstattung der Massenentlassungsanzeige zur Verfügung stellen, als solche bezeichnet (Achtung: dies ist immer noch so!):
- Geschlecht,
- Alter,
- Beruf und
- Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer.
Sachverhalt der Entscheidung des LAG Hessen vom 25.06.2021
In dem vom LAG Hessen entschiedenen Fall sprach die Arbeitgeberin der Arbeitnehmerin im Rahmen einer Massenentlassung im Sinne des § 17 KSchG eine betriebsbedingte Kündigung aus. Die Massenentlassungsanzeige der Arbeitgeberin gegenüber der Agentur für Arbeit enthielt dabei bloß die sog. „Muss-Angaben“. Erst nach Zugang des Kündigungsschreibens ergänzte die Arbeitgeberin die Massenentlassungsanzeige um die sog. „Soll-Angaben“. Die Arbeitnehmerin rügte daraufhin die Verletzung der Anzeigepflicht seitens der Arbeitgeberin und machte eine daraus folgende Unwirksamkeit der Kündigung geltend. Sowohl das Arbeitsgericht Frankfurt als auch das Landesarbeitsgericht Hessen folgten dieser Rechtsauffassung.
Verletzung der Anzeigepflicht durch verspätete „Soll-Angaben“
Nach der Ansicht des LAG Hessen ergibt sich die Verletzung der Anzeigepflicht vor dem Hintergrund des Gebots der richtlinienkonformen Auslegung des § 17 KSchG. Die europäische Massenentlassungsrichtlinie unterscheide nicht zwischen „Muss-Angaben“ und „Soll-Angaben“, sondern erstrecke die Anzeigepflicht in Art. 3 Abs. 1 Unterabsatz 3 auf alle „zweckdienlichen Angaben“. Das LAG Hessen führt an, dass die sog. „Soll-Angaben“ die Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit ebenfalls erleichterten und als sozioökonomisch bedeutsame Faktoren „zweckdienlich“ seien.
Wortlaut, Gesetzessystematik und Wille des nationalen Gesetzgebers würden einer solchen Auslegung nicht entgegenstehen. Dem allgemeinsprachlichen Wortsinn widerspreche es nicht, dass das Fehlen der sog. „Soll-Angaben“ gleichwohl Auswirkungen auf die Wirksamkeit der Kündigungen habe. Man könne das Wort „Soll-Vorschrift“ so verstehen, dass eine Pflicht begründet werde, sofern dem Arbeitgeber die Angabe möglich sei. Solange der Arbeitgeber keine Kenntnis habe und auch bei bestehender Nachforschungspflicht keine Angabe ermitteln könne, führe die Unvollständigkeit der Massenentlassungsanzeige demgegenüber nicht zur Unwirksamkeit der Kündigungen. Die „Muss-Angaben“ hingegen lägen in der Sphäre des Arbeitgebers, sodass ihm diese immer bekannt sein müssten.
Rechtsfolge: Unwirksamkeit der Kündigung
Anknüpfend an die bisherige Rechtsprechung des BAG zu „Muss-Angaben“ stützt das LAG Hessen die Unwirksamkeit der Kündigung auf einen Verstoß gegen ein gesetzliches Kündigungsverbot gem. § 17 Abs. 1 KSchG i.V.m. § 134 BGB. Es sei auch nicht möglich, den Fehler nachträglich zu heilen oder sich auf die fehlende Beanstandung durch die Agentur für Arbeit zu berufen, da dies dem Gebot der effektiven Umsetzung des Unionsrechts entgegenstünde. Ferner widerspreche die Unwirksamkeit der Kündigung nicht dem Grundsatz des Vertrauensschutzes, da dessen Gewährung im Anwendungsbereich des Unionsrechts allein dem Gerichtshof obliege.
Fazit und Handlungsempfehlung
Die Erstattung von Massenentlassungsanzeigen ist auch ohne die bislang ergangene Rechtsprechung eine hohe Kunst. Zuletzt hatte der Betriebsbegriff und die damit verbundene örtliche Zuständigkeit der Agentur für Arbeit in der Rechtsprechung dafür gesorgt, dass Arbeitgeber in Zukunft noch vorsichtiger sein müssen (siehe ESCHE blog v. 14.02.2020: BAG erklärt Kündigungen des Cockpit-Personals von Air Berlin wegen fehlerhafter Massenentlassungsanzeige für unwirksam). Das Urteil des LAG Hessen reiht sich darin ein. „Soll-Angaben“ müssen nunmehr von Arbeitgebern recherchiert und vorsorglich bei der Massenentlassungsanzeige mit eingereicht werden. Obgleich das LAG Hessen die Revision zugelassen hat und damit eine Entscheidung des BAG abzuwarten ist, zeitigt es mit Blick auf die nunmehr sicherheitshalber zu erbringenden „Soll-Angaben“ Mehraufwendungen im Rahmen zukünftiger Restrukturierungen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass den Arbeitgeber hinsichtlich ihm bislang nicht bekannter „Soll-Angaben“ auch Nachforschungspflichten treffen sollen.
Unter Mitarbeit von Leonard Altemöller.