Bei jeder Beendigungskündigung ist der Arbeitgeber verpflichtet, den Betriebsrat vor Ausspruch der individuellen Kündigung gem. § 102 Abs. 1 BetrVG anzuhören und ihm die Gründe für die Kündigung mitzuteilen. Der Betriebsrat muss durch die Mitteilungen des Arbeitgebers in die Lage versetzt werden, überprüfen zu können, ob ein Widerspruchsgrund gem. § 102 Abs. 3 BetrVG vorliegt. Bei der Frage, inwieweit der Arbeitgeber im Falle einer betriebsbedingten Kündigung zu den Sozialdaten und einer etwaigen Vergleichbarkeit mit anderen Mitarbeitenden informieren muss, bestanden bislang Unsicherheiten. In seiner Entscheidung vom 08.12.2022, deren Entscheidungsgründe nunmehr veröffentlicht wurden, hat sich das BAG hierzu nun positioniert.

Sachverhalt
Zwischen den Parteien war die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung streitig. Der Kläger, der seit fast zwanzig Jahren bei der Beklagten beschäftigt war und einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt ist, stand auf einer von drei zwischen den Betriebsparteien abgeschlossenen Namenslisten. Auf der Grundlage eines mit dem Betriebsrat im März 2020 abgeschlossenen Interessenausgleichs mit Namensliste kündigte die Beklagte 61 der zu diesem Zeitpunkt beschäftigten 396 Arbeitnehmer. Ein zweiter Interessenausgleich, den die Betriebsparteien sodann ab Ende April 2020 über einen erneuten Personalabbau verhandelten, wurde Ende Juni 2020 unterzeichnet. Dieser sah die Betriebsstilllegung zum 31. Mai 2021 nach Ausproduktion und damit die Kündigung sämtlicher Arbeitsverhältnisse, gestaffelt zu drei Terminen (zum nächstmöglichen Termin, zum Ende der Ausproduktion am 31. Mai 2021 sowie für diejenigen Arbeitnehmer, denen schon auf Grundlage des ersten Interessenausgleichs gekündigt worden war und die entweder Kündigungsschutzklage erhoben haben oder noch erheben konnten) vor. Der Kläger war als Nr. 44, ebenso wie Herr M. und drei weitere Mitarbeiter der Armaturenfertigung auf der Liste derjenigen Arbeitnehmer namentlich genannt, die zum nächstmöglichen Termin zu kündigen waren. Aufgrund der Kündigung sämtlicher Arbeitsverhältnisse hielten die Betriebsparteien eine soziale Auswahl für entbehrlich. Der Kläger hat mit seiner Klage die Unwirksamkeit der Kündigung geltend gemacht, da eine soziale Auswahl aufgrund der unterschiedlichen Beendigungszeitpunkte erforderlich gewesen wäre, aber von der Beklagten nicht vorgenommen und entsprechend auch der Betriebsrat hierzu nicht angehört worden sei. Ein Nachschieben der Gründe für die soziale Auswahl erachtete der Kläger als unzulässig.

Entscheidungsgründe
Das BAG hat die Revision des Klägers verworfen und festgestellt, dass die Kündigung das Arbeitsverhältnis des Klägers wirksam beendet hat. Insbesondere durfte die Beklagte eine hypothetische Sozialauswahl in den Rechtsstreit einführen, auch wenn die erfolgte Betriebsratsanhörung hierzu keine Informationen enthielt. Auch käme es nicht darauf an, ob dem Betriebsrat sämtliche Sozialdaten aller Arbeitnehmer mitgeteilt wurden. Das BAG stellte fest, dass ein Arbeitgeber, wenn er bei einer durchgeführten Sozialauswahl Arbeitnehmer übersehen oder für nicht vergleichbar gehalten und aufgrund dessen dem Betriebsrat die für die soziale Auswahl erheblichen Umstände nicht mitgeteilt hat, dies im Prozess auf entsprechende Rüge ergänzen kann. Dies begründet das BAG damit, dass ein Arbeitgeber bei der Betriebsratsanhörung in der Regel noch nicht wissen kann, welche Unwirksamkeitsgründe der betroffene Arbeitnehmer in einem Kündigungsschutzprozess geltend machen wird. Arbeitgeber dürfen nicht durch ein Abschneiden eines entsprechend ergänzenden Sachvortrages rechtlos gestellt werden. Gleiches gilt auch dann, wenn ein Arbeitgeber aus nachvollziehbaren Gründen davon ausgegangen sei, eine Sozialauswahl sei insgesamt entbehrlich.

Praxishinweis
Die bislang bestehende Unsicherheit bei betriebsbedingten Kündigungen, durch eine unvollständige Betriebsratsanhörung in puncto soziale Vergleichbarkeit die Unwirksamkeit der Kündigung zu riskieren, wird insoweit durch die Entscheidung des BAG abgemildert, dass sich Arbeitgeber nunmehr nicht mehr zu jeglichen denkbaren Konstellationen einer sozialen Vergleichbarkeit bereits bei der Betriebsratsanhörung positionieren müssen. Dies erleichtert die arbeitsrechtliche Praxis dahingehend, dass durch die Zulässigkeit des Nachschiebens einer hypothetischen Sozialauswahl Arbeitgeber erst nach entsprechender Rüge des Arbeitnehmers im Prozess „Farbe bekennen“ müssen; es obliegt somit – richtigerweise – zunächst der Arbeitnehmerseite, auf aus ihrer Sicht vergleichbare Arbeitnehmer hinzuweisen und dies in den Rechtsstreit einzuführen.
 

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