Statistisch tritt das Szenario häufiger auf als gedacht: es kommt zur Kündigung, und unmittelbar darauf trifft der „gelbe Schein“, also die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB) beim Noch-Arbeitgeber ein. Das Bundesarbeitsgericht hat nun seine jüngst eingeläutete Rechtsprechungsänderung zum sog. Beweiswert einer AUB weiter vorangetrieben und entschieden, dass dieser erschüttert sein könne, wenn ein Arbeitnehmer im zeitlichen Zusammenhang mit dem Zugang der Kündigung ein ärztliches Attest vorlegt, das passgenau die Dauer der Kündigungsfrist abbildet – dies gilt jedenfalls dann, wenn der Arbeitnehmer direkt im Anschluss einen neuen Job antritt.
Der Fall: Genesung pünktlich zum Start des neuen Jobs
In dem der aktuellen Entscheidung des BAG, die bislang erst als Pressemitteilung vorliegt (13.12.2021 - 5 AZR 137/22), zugrunde liegenden Fall ging es um einen mit Hilfstätigkeiten betrauten Mitarbeiter eines Zeitarbeitsunternehmens. Am 02.05.2022 übermittelte dieser eine AUB an das Unternehmen, ausweislich derer er aufgrund einer Infektion der oberen Atemwege bis zum 06.05.2022 arbeitsunfähig war. Das Unternehmen kündigte daraufhin postwendend ordentlich fristgerecht zum 31.05.2022, woraufhin sich der Mitarbeiter bis einschließlich 20.05.2022 weiterhin krankschreiben ließ (Folgeattest) und sodann eine dritte AUB vorlegte, die ihn aus Gründen eines nicht näher bezeichneten Stresszustands bis exakt zum 31.05.2022 krankschrieb. Der Arbeitgeber verweigerte die Entgeltfortzahlung, da der Beweiswert der AUB erschüttert sei – die beiden Vorinstanzen haben dem Mitarbeiter im Rahmen einer Zahlungsklage auf ausstehende Entgeltfortzahlung zunächst Recht.
BAG: „Ernsthafte Zweifel im Rahmen einer Gesamtbetrachtung“
Das BAG sah dies anders und verwies den Fall zur weiteren Aufklärung zurück an die Vorinstanz. Ein Arbeitnehmer könne zwar, so der Senat, eine von ihm behauptete Arbeitsunfähigkeit mittels einer ordnungsgemäß ausgestellten AUB nachweisen, denn diese sei unverändert das gesetzlich vorgesehene Beweismittel. Der Beweiswert könne aber erschüttert sein, wenn es dem Arbeitgeber gelänge, tatsächliche Umstände zu beweisen, die „im Rahmen einer Gesamtbetrachtung Anlass zu ernsthaften Zweifeln“ gebe. Ausdrücklich nicht von Belang für diese Beurteilung sei, so das BAG, wer gekündigt habe sowie ob ein oder mehrere ärztliche Atteste vorgelegt würden. Im zugrundeliegenden Fall führte das dazu, dass die erste AUB, das eine Woche lang galt, in seinem Beweiswert anerkannt wurde, die beiden Folgeatteste aber, die sich auf die restlichen drei Wochen der Kündigungsfrist – passgenau – erstreckt hatten, in ihrem Beweiswert erschüttert waren.
Praxisfolge: „Passgenaue“ Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen kritisch prüfen
Unternehmen ist zu raten, nach dieser (weiteren) Präzisierung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in der laufenden Kündigungsfrist genau hinzuschauen und ggf. die Entgeltfortzahlung zu verweigern: das BAG schrieb der Vorinstanz ins Stammbuch, diese habe zu berücksichtigen gehabt, dass zwischen der in den Folgebescheinigungen festgestellten passgenauen Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit und der Kündigungsfrist ein zeitlicher Zusammenhang bestand, und dass der Mitarbeiter unmittelbar im Anschluss eine neue Beschäftigung aufgenommen habe. Daher treffe ihn für diesen Zeitraum, so das BAG, auch die volle Darlegungs- und Beweislast in Bezug auf den vermeintlichen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
Weiterführende Links:
- Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen - Das Bundesarbeitsgericht
- Pilotphase abgeschlossen: Die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist Pflicht (ESCHE Blog)
- Adventskalenderbeitrag von Patrizia Chwalisz vom 08.12.2023