Aktuell warnen der BDA und verschiedene Ärztekammern vor nicht ordnungsgemäßen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AUB), deren ausstellende Privatärzte in Deutschland nicht zugelassen oder sogar nicht bekannt sind. Auf den Websites der Anbieter wird mit einem besonders einfachen AU-Schein ohne Gespräch geworben. Arbeitnehmer können über die Online-Fragebögen selbst dafür sorgen, dass schlussendlich die Arbeitsunfähigkeit sicher festgestellt wird. Arbeitgeber sollten unbedingt prüfen, welche Maßnahmen sie ergreifen können, um nicht ordnungsgemäße AUB aufzudecken und ggf. anzuzweifeln.

Die besagten AUB können sich Arbeitnehmer auf einschlägigen Websites nach Ausfüllen eines Online-Fragebogens als „Anamnese“ ohne vorheriges persönliches Arztgespräch ausstellen lassen. Anbieter sind z.B. https://dransay.com/ oder http://www.au-schein.de/. Im Test kann der dazugehörige Fragebogen ausschließlich dergestalt ausgefüllt werden, dass er schlussendlich eine Krankheit diagnostiziert, die sicher zur Arbeitsunfähigkeit führt. Die neuen AUB haben insbesondere deswegen Aufmerksamkeit erregt, weil die genannten Privatärzte in Deutschland nicht zugelassen sind. Besonders brisant ist, dass auf den AUB fiktive Praxisadressen in Krankenhäusern oder Co-Working-Spaces in verschiedenen deutschen Großstädten zu finden sind, an denen die genannten Ärzte nicht einmal bekannt sind.

Rechtsprechung zu Online-Krankschreibungen
Der Anbieter Dr. Ansay, nach eigenen Angaben das größte deutsche Telemedizin-Start-Up, ist mit seinem Geschäftsmodell bereits vor dem OLG Hamburg gescheitert. Es wurde gerichtlich festgestellt, dass seine damalige Geschäftspraxis wettbewerbswidrig sei. Er warb mit Aussagen wie „Hier erhalten Sie Ihre AU-Bescheinigung einfach online per Handy nach Hause“ oder „Symptome checken – Risiken ausschließen – Daten eingeben – Einfach bezahlen – Fertig“ (OLG Hamburg v. 05.11.2020 – 5 U 175/19, im Volltext veröffentlicht). Gemäß dem Gericht sollen Ärzte Patienten grundsätzlich im persönlichen Kontakt beraten und behandeln und dürfen nur Fernbehandlungen bei Menschen bewerben, bei denen die Einhaltung anerkannter fachlicher Standards gesichert ist. Darüber hinaus wurde der 80-jährigen Mutter von Dr. Can Ansay, die Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe war und zahlreiche Online-AUB ausgestellt hatte, rechtskräftig die Approbation entzogen. Das Gericht stellte die Unwürdigkeit zur Ausübung des ärztlichen Berufes fest, weil sie ein Online-Verfahren angewendet und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in Form einer PDF-Datei mit der Faksimile-Unterschrift des Arztes erstellt und ausgegeben hat, die auf der Grundlage von online angeklickten, vorbezeichneten Antwortmöglichkeiten automatisiert erstellt wurden (OVG Hamburg v. 15.12.2022 - 3 Bs 78/22, im Volltext veröffentlicht). 

Zugelassener Arzt als Voraussetzung für eine ordnungsgemäße AU-Bescheinigung
Dr. Ansay hatte im weiteren Verlauf sein Geschäft auf das Ausstellen von Rezepten ohne vorherige Untersuchung verlagert. Doch nun häufen sich wieder Fälle von fragwürdigen Krankschreibungen durch diesen und weitere Anbieter.

Dabei ist den Arbeitnehmern, die diese Services nutzen, bewusst: Um in den Genuss von Entgeltfortzahlung zu kommen, muss der Arbeitgeber eine AUB bzw. die Bestätigung der ärztlichen Feststellung über das elektronische Verfahren erhalten (§ 5 Abs. 1, 1a EntgFG). Grundsätzlich gilt in Deutschland die freie Ärztewahl, sodass auch gesetzlich Versicherte sich als Selbstzahler bei Privatärzten behandeln und krankschreiben lassen können. Dafür ist allerdings in jedem Fall notwendig, dass der behandelnde Arzt gemäß § 2 Abs. 1 Bundesärzteordnung (BÄO) approbiert ist. Ein in Deutschland nicht approbierter Arzt darf keine hier gültigen AUB, auch nicht privatärztlich, ausstellen.

Ordnungsgemäße telemedizinische Untersuchung
Die ordnungsgemäße Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit, welche dann eine Entgeltfortzahlung begründet, darf nur nach ärztlicher Untersuchung erfolgen. Mittlerweile ist dies in geeigneten Fällen auch telemedizinisch möglich. Die Krankschreibung kann dann per Telefon oder Videosprechstunde erfolgen, gemäß § 4 Abs. 5 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-Richtlinie) des gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Eine telefonische Krankschreibung soll nur erfolgen, wenn der Patient innerhalb der letzten zwei Jahre wenigstens einmal persönlich in der Praxis vorstellig geworden ist. Demgegenüber ist die AUB nach einer Videosprechstunde auch für Patienten möglich, die der Praxis vorher unbekannt waren, dann allerdings auch nur bis zu drei Tage lang. Diagnosen sind telemedizingeeignet, wenn keine körperliche Untersuchung erforderlich ist. Zwar ist die AU-Richtlinie des G-BA für Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Arbeitsverhältnis nicht verbindlich, allerdings können deren Vorgaben im Rahmen der freien Beweiswürdigung durch das Gericht als medizinisch gesicherte Erkenntnisse relevant werden. Bei Verstoß gegen die §§ 4, 5 der AU-Richtlinie nimmt die höchstrichterliche Rechtsprechung eine Erschütterung des Beweiswertes der AUB an (BAG v. 28.06.2023 - 5 AZR 335/22, im Volltext veröffentlicht). Das Ausfüllen eines Online-Formulars genügt also auch nicht den Anforderungen der AU-Richtlinie des G-BA, wodurch die eingangs erwähnten reinen Online-AUB durch nicht zugelassene Ärzte in doppelter Weise nicht ordnungsgemäß sind.

Problematische AU-Bescheinigungen erkennen
Wiedererkennungsmerkmal dieser nicht ordnungsgemäßen AUB ist, dass ihr Aussehen als PDF oder ausgedruckt in der Regel stark an das des früheren „gelben Scheins“ erinnern. Die in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Arbeitnehmer müssen seit dem 01.01.2023 im Normalfall mit einer elektronischen AUB krankgeschrieben werden und somit die Bescheinigung gar nicht selbst beim Arbeitgeber vorlegen, sodass Arbeitgeber in einem solchen Fall aufhorchen müssten. In diesem Wissen weisen die Anbieter selbst darauf hin, dass die Arbeitnehmer ihren Arbeitgeber sofort um Bestätigung des vorgelegten Dokuments als AUB bitten sollen. Deswegen sollten Arbeitgeber gerade in dieser Konstellation hellhörig werden und die vorgelegte Bescheinigung nicht ohne weiteres akzeptieren. 

Darüber hinaus sollten Arbeitgeber ihren Arbeitnehmern allgemein mitteilen, dass sie AUB nur akzeptieren, wenn diese nach den Vorgaben der AU-Richtlinie zustande kommen, d.h. ohne persönliches Gespräch mit dem Arzt nicht akzeptiert werden. Der Hinweis sollte auch beinhalten, dass bei Krankschreibungen per Telefon oder Video die besonderen Voraussetzungen der AU-Richtlinie eingehalten werden müssen.

Arbeitgeberseitiges Vorgehen bei nicht ordnungsgemäßen AU-Bescheinigungen
Hat der Arbeitgeber Zweifel bei einem gesetzlich versicherten Arbeitnehmer, der sich mit einer nicht-elektronischen, privatärztlichen AUB durch einen mutmaßlich nicht in Deutschland approbierten Arzt krankschreiben lässt, so ist ihm zu raten, mit Verweis auf diese Zweifel den Arbeitnehmer unverzüglich aufzufordern, sich ordnungsgemäß krankschreiben zu lassen. Damit ist dem Arbeitnehmer die Möglichkeit gegeben, seine ggf. tatsächliche bestehende Krankheit, solange noch Symptome vorhanden sind, auf ordentlichem Weg zu beweisen. Kann der Arbeitnehmer dann immer noch keine ordnungsgemäße AUB vorweisen, darf der Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung verweigern, weil eine ärztliche Bescheinigung ohne vorangegangene Untersuchung nur geringen Beweiswert hat (ArbG Berlin v. 01.04.2021 – 42 Ca 16289/20 unter Verweis auf BAG v.11.08.1976 – 5 AZR 422/75). Zu beachten ist aber, dass solange das Arbeitsverhältnis noch besteht, trotz der Verweigerung des Entgeltfortzahlung weiterhin Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden sollten, damit der Arbeitgeber sich nicht der Gefahr der Strafbarkeit wegen des Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen gemäß § 266a StGB aussetzt.

Der Arbeitnehmer kann sich durch das Vorlegen einer nicht ordnungsgemäßen AUB im Einzelfall auch wegen (versuchten) Betruges nach § 263 Abs. 1 StGB strafbar machen, weil er eine unberechtigte Entgeltfortzahlung herbeiführt oder dies zumindest beabsichtigt. Dies kann den Arbeitgeber unter Umständen zur außerordentlichen (Verdachts-)Kündigung berechtigen.

Dürfen Arbeitgeber vom Arbeitnehmer Angaben zur telemedizinischen Feststellungsweise und zum Arzt oder gar wie früher den „gelben Schein“ verlangen?
Seit der Einführung der elektronischen AUB erhält der Arbeitgeber mit der Bescheinigung über die Telematik-Infrastruktur lediglich die Informationen über den Namen des Versicherten, Beginn und Ende der Arbeitsunfähigkeit und die Kennzeichnung als Erst- und Folgekrankmeldung. Den ausstellenden Arzt oder die Angabe, ob eine telemedizinische Feststellung stattgefunden hat, erfährt der Arbeitgeber hingegen nicht. Grundsätzlich darf der Arbeitgeber nicht den schriftlichen Ausdruck der Arbeitgeberausfertigung der elektronischen AUB (früher „gelber Schein“) verlangen, um an diese Angaben zu kommen. Der Arbeitnehmer kann zur Vorlage auch nicht individual- oder kollektivrechtlich verpflichtet werden. Somit erfährt der Arbeitgeber weder den ausstellenden Arzt noch die Feststellungsweise der AUB.

Die Rechtsprechung bietet mittlerweile einen bunten Blumenstrauß an einzelnen Umständen, die den Arbeitgeber berechtigen, den Beweiswert einer elektronischen AUB anzuzweifeln und ggf. die Entgeltfortzahlung zu verweigern und arbeitsrechtliche Maßnahme zu ergreifen (neuerdings bei einer „passgenauen“ AUB im Zusammenhang mit einer Kündigung durch den Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, siehe dazu auch Blogbeitrag vom 14.12.2023). Hat der Arbeitgeber keine solchen Umstände vorliegen und fragt sich aber bei einer elektronischen AUB, ob sich der Arbeitnehmer wohl telemedizinisch per Telefon oder Video korrekt krankschreiben hat lassen, so ist die Aufklärung für den Arbeitgeber aufgrund der fehlenden Informationen schwierig. Es besteht dann – wie immer bei Zweifeln an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit – die Möglichkeit, beim Medizinischen Dienst (MD) der Krankenkassen ein Gutachten einzufordern. In der Regel dauert die Einholung aber so lange, dass bei Begutachtung die fraglichen Symptome nicht mehr vorliegen, weswegen sich diese Option meist als nicht zielführend erweist. 

Neueste Rechtsprechung: Dürfen Arbeitgeber nach der persönlichen Untersuchung fragen?
Unter Verweis auf die neueste Rechtsprechung des BAG wird mittlerweile vertreten, dass der Arbeitgeber vom Arbeitnehmer die Erklärung verlangen kann, ob vor Ausstellung der AUB eine persönliche Untersuchung im Sinne der AU-Richtlinie erfolgte. Der Arbeitgeber soll dies pauschal bestreiten können und ggf. sogar den Ausdruck der Arbeitgeberausfertigung der elektronischen AUB verlangen können. Das BAG hatte gerügt, dass das Berufungsgericht nicht festgestellt habe, wie der Arzt die Erkrankung des Klägers diagnostiziert habe, wobei die verschiedenen Möglichkeiten der AU-Richtlinie für eine Feststellung im Wege der telefonischen Anamnese oder Untersuchung per Video zu berücksichtigen seien (BAG v. 13.12.2023 – 5 AZR 137/23, im Volltext veröffentlicht).

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