Kurz vor Weihnachten hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zwei seit vielen Jahren erwartete Entscheidungen zum „Recht auf Vergessenwerden“ veröffentlicht (Beschlüsse vom 6.11.2019, Az. 1 BvR 16/13 und 276/17). Darin gibt das Gericht wichtige Leitlinien für den schwierigen Ausgleich zwischen dem unendlichen und grenzenlosen Wissensarchiv Internet und dem Anspruch jedes einzelnen auf den Schutz seiner personenbezogenen Daten und auf Achtung seiner Privatsphäre.
In einem der vom BVerfG entschiedenen Fälle klagte der Geschäftsführer eines Unternehmens gegen Google. Stein des Anstoßes war ein über Google auffindbarer Beitrag des NDR aus dem Jahr 2010. Darin wurden die Geschäftspraktiken des Unternehmers unter dem Titel „Kündigung: Die fiesen Tricks der Arbeitgeber“ kritisch beleuchtet. Bei Google erscheint ein Transskript des NDR-Beitrags unter den ersten Suchergebnissen, wenn der Namen des Geschäftsführers eingegeben wird. Der Fall erinnert an ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), in dem das Gericht im Jahr 2014 das sogenannte Recht auf Vergessenwerden entwickelt hatte. Danach können Suchmaschinenbetreiber verpflichtet sein, unvorteilhafte Treffer aus ihrer Ergebnisliste zu löschen, sofern das Interesse des Betroffenen am Schutz seines Persönlichkeitsrechts gewichtiger ist als das öffentliche Informationsinteresse.
Bei Google wurden aufgrund der Entscheidung des EuGH seit 2014 rund 870.000 Löschanträge gestellt, ca. 142.000 davon kamen aus Deutschland. Etwa 55 % der Anträge wies Google zurück, darunter auch den des Geschäftsführers wegen des in den Suchergebnissen auffindbaren NDR-Transkripts. Die dagegen gerichtete Klage des Geschäftsführers wies das Oberlandesgericht Celle in letzter Instanz ab. Auch die gegen dieses Urteil gerichtete Verfassungsbeschwerde war zwar erfolglos. Allerdings machen die Richter deutlich, dass es sich um einen Grenzfall handelt, der nur aufgrund seiner Besonderheiten nicht zugunsten des Klägers ausging.
Die Begründung der Entscheidung des BVerfG macht hingegen Hoffnungen, dass das „Recht auf Vergessenwerden“ gestärkt wurde. Denn dem Gericht zufolge kann sich Google lediglich auf die relativ schwache Rechtsposition der unternehmerischen Freiheit berufen. Mittelbar war nach Auffassung der Richter noch die Pressefreiheit des NDR tangiert, was sich letztlich zugunsten von Google auswirkte. Der Geschäftsführer hingegen kann den Richtern zufolge eine Beeinträchtigung seines Grundrechts auf Achtung des Privatlebens sowie des Schutzes seiner personenbezogenen Daten geltend machen. Dass die Abwägungsentscheidung doch nicht für den Kläger ausfiel, lag unter anderem daran, dass er dem NDR freiwillig ein Interview gegeben hatte und weniger seine Privat-, sondern eher seine Sozialsphäre betroffen war. Außerdem lag die Veröffentlichung des Beitrags noch nicht so lange zurück.
Praxistipp
Die Entscheidungen des BVerfG können als Grundstein einer „Magna Charta“ bei Internetveröffentlichungen bezeichnet werden. Denn das Gericht macht erneut sehr deutlich, dass das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung auch zwischen Privaten wirkt; das betrifft insbesondere das Verhältnis zwischen Bürgern und Internetdienstleistern. Wegen der immer weiter zunehmenden Bedeutung des Sammelns und Verbreitens personenbezogener Daten steht jedem Bürger laut BVerfG gegenüber Internetkonzernen das grundrechtlich gesicherte Recht zu, „selbst substantiell mitzuentscheiden“ welche Daten der eigenen Person zugeschrieben und abgerufen werden können. Ob gegenüber Internetdienstleistern tatsächlich ein Löschungsanspruch besteht, ist vom Einzelfall abhängig und bedarf einer sorgfältigen individuellen Prüfung.