Eine Entscheidung des unter anderem für das Datenschutzrecht zuständigen VI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs (BGH, Entscheidung vom 27. Juli 2020 – Az.: VI ZR 405/18) scheint auf den ersten Blick das Recht auf Vergessenwerden im Internet zu schwächen und Google zu stärken. Doch die Entscheidung könnte sich noch als echter Rückschlag für den Internetgiganten erweisen.
In dem Fall verlangte der frühere Geschäftsführer eines hessischen Wohlfahrtsverbands, nicht länger in der Google-Suchergebnissen gefunden zu werden. Im Jahr 2011 wies der Verband ein Defizit von knapp einer Million Euro auf; kurz zuvor meldete sich der Kläger krank. Über beides berichtete seinerzeit die regionale Tagespresse unter Nennung des vollen Namens des Klägers. Der Kläger verlangte von Google, es zu unterlassen, diese Presseartikel bei einer Suche nach seinem Namen in der Ergebnisliste aufzuführen. Das Landgericht Frankfurt hatte die Klage abgewiesen (Urteil vom 26. Okt. 2017 – Az.: 2-03 O 190/16). Auch die Berufung des Klägers beim Oberlandesgericht Frankfurt hatte keinen Erfolg (Urteil vom 6. Sept. 2018 – Az.: 16 U 193/17). Der BGH wies die gegen das Urteil eingelegte Revision ebenfalls zurück.
Die Richter aus Karlsruhe sahen im Ergebnis keinen Löschungsanspruch des Klägers auf der Grundlage von Art. 17 Abs. 1 DSGVO. Der Anspruch erfordert nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und dem Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 6. November 2019 (1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II, siehe dazu unseren Blogbeitrag) eine umfassende Abwägung aller Grundrechte, die auf der Grundlage aller relevanten Umstände des Einzelfalls und unter Berücksichtigung der Schwere des Eingriffs in die Grundrechte der betroffenen Person einerseits (Art. 7, 8 GRCh), der Grundrechte der Beklagten, der Interessen ihrer Nutzer und der Öffentlichkeit sowie der Grundrechte der Anbieter der in den beanstandeten Ergebnislinks nachgewiesenen Inhalte andererseits (Art. 11, 16 GRCh) vorzunehmen ist.
Im Rahmen dieser Abwägung war die Meinungsfreiheit von Google als unmittelbar betroffenes Grundrecht einzubeziehen. Dieser Umstand war laut BGH entscheidend, denn aus diesem Grund konnte der Kläger nicht von vornherein Vorrang am Schutz seiner Daten beanspruchen. Die vom BGH vorgenommene Abwägung ergab, dass die Grundrechte des Klägers trotz des neun Jahre zurückliegenden Vorgangs hinter den Interessen von Google und den in deren Waagschale zu legenden Interessen ihrer Nutzer, der Öffentlichkeit und der für die verlinkten Zeitungsartikel verantwortlichen Presse-Organe zurückzutreten hatten. Entscheidend war außerdem, dass die Nennung des vollen Namens des Klägers in der verlinkten Berichterstattung im Zeitpunkt ihres Erscheinens rechtmäßig war.
Praxistipp
Das Spektakuläre der BGH-Entscheidung ist eine Randnotiz in der Pressemitteilung des Gerichts. Dort heißt es, aus den gleichberechtigt gegenüberstehenden Grundrechtspositionen Meinungsfreiheit und Recht auf Vergessenwerden folge, dass Betreiber von Suchmaschinen nicht erst dann tätig werden müssen, wenn sie von einer offensichtlichen und auf den ersten Blick klar erkennbaren Rechtsverletzung des Betroffenen Kenntnis erlangen. Bislang war ständige Rechtsprechung des BGH (vgl. Senatsurteil vom 27. Februar 2018 – VI ZR 489/16), dass Suchmaschinenbetreiber erst dann Störer sind, wenn sie durch einen Hinweis „bösgläubig“ gemacht werden. Wenn der BGH diesen Grundsatz nicht mehr anwendet, könnten harte Zeiten auf die Verantwortlichen von Suchmaschinen zukommen, da sie dann nicht erst ab Kenntnis, sondern schon vorher für rechtswidrige Inhalte haften.